John Rothstein, der in den
Sechzigerjahre aufgrund der Jimmy-Gold-Trilogie als bester Autor des
Jahrhunderts bezeichnet wurde, wird von Morris Bellamy, einem jungen
psychotischen Verehrer ermordert, aus Wut über die Entwicklung des
Protagonisten Jimmy Gold. Er stiehlt das im Haus befindliche Bargeld
und, was am wichtigstens ist: weit über hundert Notizbücher mit
unveröffentlichten Werken. Alles versteckt er in einem vergrabenen
Koffer und landet für die Vergewaltigung einer Frau nach einer
durchzechten Nacht im Gefängnis.
Peter Saubers stößt Jahre später auf
den vergrabenen Schatz. Mit dem Geld unterstützt er seine Eltern,
die, nachdem sein Vater durch den Mercedes-Mörder seine Arbeit
verlor, in Geldnot sind. Doch was macht er mit den Notizbüchern? Und
was passiert, wenn Morris plötzlich nach 35 Jahren aus dem Gefängnis
entlassen wird und seinen Koffer leer vorfindet?
Der von Stephen King im Jahre 2014
veröffentliche Roman gilt als Nachfolger von Mr. Mercedes und als
zweiter Band der Mercedes-Trilogie, die als zentrales Thema das
Mercedes-Massaker am Auditorium hat. Die Folgen eines solchen
Anschlags für eine Familie finden ihre Entsprechung in der Familie
des jungen Protagonisten: Peter Saubers. Die Saubers als Mitglied des
klassischen Mittelstands, die schwer von der Wirtschaftskrise
getroffen sind, erfahren nach dem Anschlag noch größere finanzielle
Probleme, die (weit interpretiert) als Kritik am amerikanischen
Krankenkassensystem verstanden werden können. Ebenfalls erscheinen
ein paar alte Bekannte aus dem Vorgänger des Buches: Jerome, Holly
und nicht zuletzt Bill Hodges, der als Detective im Ruhestand, nun
seine Zeit als Privatermittler verbringt.
Das Thema ist relativ klar: die Liebe
zur (amerikanischen) Literatur und der daraus leider viel zu oft
resultierende Fanatismus. Die Angst vor fanatischen Fans, die King
immer wieder in Interviews angerissen hat, manifestiert sich hier im
Antagonisten Morris Bellamy. Was wenn die Fiktion eine zu starke
Macht über die Realität ausübt? Szenen, die man aus Misery
kennt, tauchen in leicht verschobener, radikalerer Art im Prolog auf
und durchziehen die gesamte Geschichte. Doch unterschwellig geht es
um viel wichtigeres; ein Gedanken, den King in vielen seiner Werke
und insbesondere in der Kurzgeschichte Atemtechnik aus der
Sammlung Frühling, Sommer, Herbst und Tod thematisiert: „Die
Geschichte zählt, nicht der Erzähler.“
Der Erzählstil entspricht dem
King'schen Ideal: rudimentäre Ausschmückungen und die zentrale
Fokussierung auf das Wichtigste stehen im Mittelpunkt, werden jedoch
mit brachialer Ironie gekoppelt. Die Geschichte ist äußerst
spannend aufgebaut und nach jedem Kapitel lockt der Altmeister der
suspense ein weiteres Ass aus seinem Ärmel. Typisch nach King'scher
Art geht es im Wechsel zwischen zwei zeitgleichen Zeitsträngen, die
in überraschenden Wendung auf den Klimax zu rennen. Eine weitere
große Stärke Kings ist, unglaublich kraftvoll Machtabhängigkeiten
unter Charakteren zu demonstrieren. Dieses gegenseitige In-der-Hand
haben, das als scheinbar nicht lösbares Dilemma erscheint, taucht in
vielen verschiedenen anderen Werken auf: Der Musterschüler
oder Needful Things um zwei zu nennen.
Die Charaktere, meist bekannt aus Mr.
Mercedes, wirken lebendig und kraftvoll. Die oft bei King zu
findenden „Ticks“ seiner Charaktere verbildlichen sich erneut in
der liebenvollen, aber introspektiven Holly, während die jungen
Seite Kings erneut in der Rolle des Jerome eine Stimme geliehen wird.
Interessant jedoch: die enorme Alterverschiebung der Protaganisten
und Antagonisten. Während in Kings früheren Werken es oft um das
Problem des Älterwerdens geht (Carrie,ES, Die Leiche), in
seinen mittleren es oft um den Versuch geht, sich an seine alten
Freunde zu erinnern (ES, Dreamcatcher), so folgt der
Altmeister seinem eigenem Älterwerden. So sind in diesem Fall der
Anta- und (zweite) Protagonist im Rentenalter und verspüren auch die
körperlichen Folgen des gehobenen Alters (wie in den späteren
dunkler Turm Bänden).
Die Figur Morris Bellamy jedoch – und
man verzeihe die Bemerkung – wirkt für mich zu oberflächlich und
eindimensional. Die oft von King durchgeführten Rückblicke, die
seinen Charakteren sonst eine unglaubliche Tiefe geben, fehlen bei
Morris oder werden nicht konsequent durchgeführt. Stattdessen sieht
man nur die Spitze des Bellamy'schen Charakter-Eisbergs. Diese
Schwäche des zweiten Teils im Vergleich zur unglaublichen Figur des
Brady Hartfield, der in Interaktion mit seiner Mutter, seine
krankhafte Psychose ausbildet, fällt besonders ins Auge, wenn man
die erneute gestörte Beziehung (im Werk Finderlohn zwar in deutlich
abgeschwächter, aber dennoch immer noch erkennbarer Form) zwischen
dem Antagonisten und seiner Mutter bemerkt.
Die spannende Frage, die sich bei King
jedoch immer ergibt: wo sind die Verknüpfungen zu anderen Werken? So
tauchen gut versteckte Eatereggs zu Mr. Mercedes, Misery, Shining und
nicht zuletzt dem dunklem Turm selbst auf, um nur einige zu sehen.
Welcher Art diese sind, soll jeder selbst für sich finden.
Die letzte Frage nun, die sich am Ende
des zweiten Bandes der Mercedes-Reihe stellt: ist diese Trilogie
eigentliche Thriller oder Horror. Die Antwort darauf erfahren wir
wohl erst im dritten Teil: End of Watch.
Vielen Dank an den Heyne Verlag für dieses Rezensionsexemplar.
Hallo Nadja,
AntwortenLöschenschön, dass dir das Buch auch gefallen hat, ich fand es großartig! Am Ende habe ich mich auch gefragt, ob er mit der Trilogie wirklich im Krimi-Genre bleiben will oder nur mit seinen Lesern spielt. ;-) Der 3. Teil heißt End of Watch?
Liebe Grüße,
Nicole
Ja, heißt end of watch, erscheint laut Internet am 7. Juni :)
AntwortenLöschenIch bin schon gespannt!
Danke für die Info! Dann nehme ich es gleich einmal in meine Leseplanung auf. :-)
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